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Seit Donald Trumps zweiter Amtszeit wird der globale Handelskrieg erneut eskaliert. Es vergeht fast kein Tag ohne neue Zollankündigungen von Seiten der USA. Aber was steckt eigentlich hinter den Zöllen? Welche Denkschulen haben sich für und gegen Zölle ausgesprochen? Und wie hat sich das in der politischen Praxis ausgedrückt? Dieser Beitrag zeichnet kurz die wichtigsten Argumente nach, die es in der Handelspolitik gibt und ordnet anschließend die Eskalation des Handelskriegs ein.
Autorin: Julia Eder
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Betrachtet man die Geschichte der Neuzeit, wechseln sich wirtschaftliche Denkschulen ab, die mal dem Protektionismus, mal dem Freihandel stärker zugeneigt sind. Wichtig ist allerdings im Kopf zu behalten, dass die in einer Periode dominante Denkschule nie vollständig die politische Praxis bestimmt hat. So gab es freihändlerische Phasen, in denen protektionistische Maßnahmen weiterhin eingesetzt wurden und protektionistische Phasen, in denen sich die Freihändler bereits zum Gegenschlag formierten und in einzelnen Ländern den Ton angaben. Theorie und Praxis klaffen in diesem Feld so weit auseinander, wie in kaum einem anderen Bereich.
Dabei gibt es nicht „den“ Protektionismus, sondern es existiert eine Vielzahl von Handelshemmnissen, die freien Handel einschränken können. Zölle sind sogenannte „tarifäre“ Handelshemmnisse, die sich auf Importe oder Exporte und dabei entweder auf Menge oder Wert eines Gutes beziehen. Darüber hinaus gibt es noch „nicht tarifäre“ Handelshemmnisse, z.B. technische Normen und Standards, Import- oder Exportverbote, Importquoten, Exportsubventionen und einiges mehr. Beide Arten von Handelshemmnissen können außerdem nur bestimmte Produktgruppen (z.B. landwirtschaftliche Güter) umfassen, was die Beurteilung, ob ein Land im Allgemeinen protektionistisch agiert oder nicht, schwieriger macht. Oft ist die Politik nur in jenen Teilbereichen der Wirtschaft so ausgerichtet, die als besonders schützenswert gelten. Protektionistische Maßnahmen werden aus einer entwicklungsökonomischen Perspektive überflüssig, wenn ein Industriezweig konkurrenzfähig geworden ist.
Zölle waren – zuerst für Königshäuser und Fürstentümer, später für Nationalstaaten – eine wichtige Einnahmequelle für den Staatshaushalt. Sie wurden ursprünglich auf alle eingeführten Güter erhoben, später aber vorrangig auf jene, deren Import die eigenen Produzent:innen gefährdet hätte oder deren Export anderen Ländern technologisches Lernen oder Wertschöpfungsaneignung durch Weiterverarbeitung ermöglicht hätte. Ab der Industrialisierung wurden Zölle auch gezielt eingesetzt, um andere Staaten (oft die eigenen Kolonien) in ihrer industriellen Entwicklung zu behindern oder zurückzudrängen. Während der Einsatz von Zöllen seit der Formierung der Welthandelsorganisation Mitte der 1990er-Jahre bis vor wenigen Jahren stark zurückging, sind nicht tarifäre Handelshemmnisse immer prominent im Einsatz gewesen. Auch der Einsatz von Zöllen zur potenziellen Rückverlagerung von Produktionsstätten ist ein vergleichsweise junges Phänomen, das in der politischen Praxis erst während der letzten Jahre als Reaktion auf die Schattenseiten der Globalisierung und geopolitischen Verwerfungen eingesetzt wird.
Geschichtlich hat sich gezeigt, dass die Bevorzugung oder Ablehnung von Freihandel von der Position des eigenen Landes im Weltsystem (im Aufstieg, dominant oder im Abstieg) abhängt, die wiederum auch vom wirtschaftlichen – insbesondere industriellen – Entwicklungsstand eines Landes oder einer Ländergruppe beeinflusst wird (siehe Abbildung 1). Protektionistische Maßnahmen sind vor allem dann interessant, wenn ein Land oder eine Region wirtschaftlich aufholen möchte oder sich im Abschwung befindet. An der Weltmarktspitze sind solche überflüssig. Zudem war eine dominante freihändlerische oder protektionistische Phase auch innerhalb der Nationalstaaten stets zwischen Kapitalfraktionen und gesellschaftlichen Interessengruppen umkämpft.
Der erste große Freihändler – der Brite Adam Smith – richtete sich gegen den vom 16. bis ins 18. Jahrhundert dominanten Merkantilismus. Das war eine Phase, in der alle großen europäischen Königshäuser und Fürstentümer versuchten, möglichst große Edelmetallreserven anzuhäufen und eine positive Handelsbilanz herzustellen, also mehr zu exportieren als zu importieren. Mithilfe von Zolleinnahmen sollten Staatsausgaben wie Heer und Beamtenapparat finanziert und der Wohlstand auf eigenem Territorium erhöht werden. Zu diesem Zweck waren Handelsschranken aller Art sehr dienlich.
Smith argumentiert in seinem berühmten Werk „Der Wohlstand der Nationen“, dass es besser ist, wenn alle Länder Arbeitsteilung betreiben. Jedes Land soll sich auf die Güter spezialisieren, die es am günstigsten herstellen kann, und dann mit den anderen tauschen. So entsteht ein Gewinn für alle. Diese Grundidee der „absoluten Kostenvorteile“ wurde von David Ricardo zum „Theorem der komparativen Kostenvorteile“ weiterentwickelt. Anfang des 20. Jahrhunderts griffen die Neoklassiker diese Annahmen auf und entwickelten sie weiter. Im Neoliberalismus bestehen sie als handelspolitische Leitlinie fort: Die Spezialisierung nach komparativen Kostenvorteilen wird von (wirtschafts-)liberalen Denkschulen weiterhin empfohlen. Die Grundidee ist in allen Varianten, dass bei Freihandel alle gewinnen: durch die Spezialisierung auf bestimmte Produkte können diese effizienter und hochwertiger hergestellt werden. Dadurch sinken die Preise und durch Handel erhöht sich außerdem das Angebot an günstigen Vorleistungen und Gütern für Unternehmen und Konsument:innen.
Aus einer kritischen Perspektive wurden interessante Beobachtungen zu diesen Theorien formuliert. Erstens ist das freihändlerische Denken insbesondere in jenen Ländern ausgeprägt, die sich nach einer längeren Phase des Aufstiegs an der Weltmarktspitze befinden. Sie benötigen selbst keine Zölle mehr, da sie nun wettbewerbsfähig sind und wollen sie auch anderen Ländern verbieten, um diese beim Aufholen zu behindern. Der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang beschreibt dies in seinem Buch „Kicking Away the Ladder“ („die Leiter wegstoßen“) – und nimmt damit Bezug auf eine Metapher, die ursprünglich von Friedrich List (s.u.) stammt. Zweitens ist auffällig, dass Länder auch in ihren freihändlerischen Perioden ihre „Achillesfersen“ weiterhin protektionistisch schützen. Beispiele dafür sind die fortbestehenden Agrarzölle der EU oder die britischen Corn Laws, durch die das Vereinte Königreich bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts hohe Einfuhrzölle auf Getreide einhob. Theorie und Praxis können also stark auseinanderfallen. Drittens werden von Freihandelsbefürworter:innen global unterschiedliche Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards ausgeblendet oder zumindest nicht als problematisch erachtet. Die Neoklassik geht davon aus, dass die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit(-skräfte) mobil sind und sich weltweit zu den für sie besten Bedingungen hinbewegen wollen und können („Faktormobilität“). Deshalb sollen die politischen Rahmenbedingungen so gestaltet sein, dass das Kapital zu den global besten Investitionsbedingungen (z.B. niedrige Steuern) fließen kann (und die Arbeitskräfte zu den Arbeitsplätzen ziehen können). Niedrige Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards können Investitionen ebenfalls attraktiver machen und deshalb entsteht ein „Wettbewerb nach unten“ bei diesen Regulierungen.
In der kritischen Entwicklungsökonomie gibt es schon lange Denkschulen, die den Einsatz von Zöllen verteidigen. Offiziell werden sie nicht als „protektionistisch“ bezeichnet, sondern als entwicklungs- oder produktionsorientierte Theorien, weil die protektionistischen Maßnahmen eigentlich der Stärkung der (industriellen) Produktion mit dem Ziel der nachholenden Entwicklung dienen.
Bekannte Vertreter dieser Denkweise waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Alexander Hamilton in den USA und Anfang des 19. Jahrhunderts Friedrich List auf deutschem Gebiet (die Fürstentümer hatten damals noch nicht zum Nationalstaat zusammengefunden). Letztgenannter entwickelte Hamiltons Gedanken weiter. Sowohl die USA als auch die deutschen Fürstentümer waren mit der Übermacht Großbritanniens konfrontiert. Ihr Ziel war es, in der industriellen Entwicklung aufzuschließen. Zu diesem Zweck empfahlen sie den vorübergehenden Einsatz von sogenannten „Erziehungszöllen“ als Unterstützung für jene Industriezweige, die sie entwickeln wollten, die mit den britischen am Weltmarkt aber noch nicht konkurrenzfähig waren. Bei List waren die Zölle allerdings in eine breitere Entwicklungsstrategie eingebettet, die auch Infrastruktur (z.B. den Bahnbau) und Bildung der Bevölkerung fördern sollte. List setzte sich außerdem für die Gründung des Deutschen Zollvereins ein, der die Zölle zwischen den deutschen Fürstentümern abschaffen, aber einen gemeinsamen Außenzoll errichten sollte. Deshalb gilt er als einer der Vorväter des europäischen Integrationsgedanken. Letztendlich waren beide Staaten sehr erfolgreich mit dieser Politik und wurden – die USA früher, Deutschland später – schließlich selbst zu glühenden Vertretern des Freihandels.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 beeinflusste auch dem Freihandel zuvor positiv eingestellte Theoretiker wie John Maynard Keynes. Er erkannte die Wichtigkeit einer ausgeglichenen Handelsbilanz und sah Zölle als einen wichtigen Bestandteil seiner interventionistischen Wirtschaftspolitik, die u.a. Industrie und Arbeitsplätze im eigenen Land sichern sollten. Außerdem forderte er bereits in der Zwischenkriegszeit Kapitalverkehrskontrollen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Abkommens von Bretton Woods – gemeinsam mit dem Goldstandard, der fixe Wechselkurse garantierte – etabliert wurden. In dieser Phase der zwischenstaatlichen Beziehungen waren Zölle und andere Handelsbarrieren – auch Kapitalverkehrskontrollen – absolut üblich. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begann ab den späten 1950er-Jahren mit dem Aufbau einer Zollunion. Sie schaffte die Binnenzölle der damals sechs Mitgliedsstaaten ab und errichtete einen gemeinsamen Außenzoll. Damit überschritt sie die Kompetenzen eines regulären Freihandelsabkommens, das keinen gemeinsamen Außenzoll vorsieht, und wurde zu einem Projekt regionaler wirtschaftlicher Integration.
Lists Ideen erlebten einen neuen Aufschwung im Lateinamerika der 1930er-Jahre und wurden in der Nachkriegszeit von der UN-Kommission für Lateinamerika und die Karibik (auf Spanisch CEPAL) unter ihrem ersten Generalsekretär Raúl Prebisch zu einem eigenen Theoriegebäude weiterentwickelt. Der „lateinamerikanische Strukturalismus“ empfahl den Ländern Lateinamerikas, den Weg der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) zu gehen, da sich Europa und die USA wegen der Weltwirtschaftskrise 1929 zunehmend vom Weltmarkt abschotteten. Außerdem wurde die einseitige Spezialisierung auf Rohstoffexport wegen der hohen Weltmarktpreisschwankungen als nachteilig eingeschätzt. Wie auch List argumentierten die Expert:innen der CEPAL für den vorübergehenden Einsatz von Zöllen, die wieder ausgesetzt werden sollten, sobald die Industrien wettbewerbsfähig geworden waren. In der Praxis passierte das aber nicht. Die Zölle wurden in den allermeisten Fällen beibehalten, bis der Volcker-Schock 1979 die lateinamerikanischen Länder in eine schwere Schuldenkrise stürzte (die auch durch das sehr importintensive Wirtschaftsmodell ausgelöst war). Weltbank und Internationaler Währungsfonds zwangen den Ländern während der 1980er-Jahre Strukturanpassungsprogramme auf, die Privatisierungen, Liberalisierung und Deregulierung mit weitreichendem Zollabbau erforderten und viele der ehemals geschützten Industrien zugrunde gehen ließen. Einige große lateinamerikanische Industriebetriebe, die heute noch Bedeutung haben, sind in der geschützten Zeit entstanden und überlebten die strenge Sparpolitik. Ein bekanntes Beispiel ist der brasilianische Flugzeugbauer Embraer.
Denkschulen, bei denen protektionistische Maßnahmen eine Rolle spielen, gehen davon aus, dass bei Freihandel nicht alle beteiligten Akteur:innen gewinnen. Einerseits wird einer Spezialisierung auf Rohstoffabbau und -export nachgesagt, dass sie nachteiliger ist als Industriegüter herzustellen und diese zu handeln, weil Rohstoffpreise stärker schwanken und weniger Wertschöpfung im Land erzeugt wird. Reinert spricht von der Möglichkeit, sich auf „Armut zu spezialisieren“. Andererseits sorgt Spezialisierung immer auch für Rationalisierung. Weniger wettbewerbsfähige Unternehmen müssen ganz schließen oder sie drohen abzuwandern, wenn Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards nicht gesenkt werden. Durch Rationalisierung verlieren also manche Beschäftigte ihre Jobs und manche Regionen – oder sogar ganze Länder – ihre industriellen Produktionskapazitäten. Es werden zwar die Preise für Industrie- und Konsumgüter gesenkt, aber zugleich wird durch die Öffnung Lohnsteigerungen eine klare Grenze gesetzt. Der Import von billigen Konsumgütern wird dann fast schon zur Voraussetzung, um Lohnzurückhaltung für die eigenen Exportindustrien durchhalten zu können. Auch aus ökologischer Perspektive kann „grenzenloser“ Welthandel kritisch betrachtet werden, da Handel auch CO2 verursacht, negative Umweltauswirkungen von Produktion oft in ärmere Länder ausgelagert werden und zudem häufig Güter getauscht werden, die jedes Land selbst produzieren kann, also nur die Auswahl für die Konsument:innen erhöht wird. Umgekehrt führt der Einsatz von protektionistischen Maßnahmen richtigerweise zu Preissteigerungen. Diese wären allerdings in halbwegs geschlossenen Wirtschaftsräumen nicht so ein großes Problem, da die Löhne kontrolliert miterhöht werden könnten (wie das in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und in Westeuropa gemacht wurde).
Der neoliberale Durchbruch wurde bereits seit Ende der 1940er-Jahre von der von Friedrich August von Hayek gegründeten Mont Pèlerin Society in Hinterzimmern vorbereitet. Mit Margaret Thatcher (ab 1979) und Ronald Reagan (ab 1981) konnte er zuerst in Großbritannien und dann in den USA politisch an die Macht gelangen. Mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Zusammenbruch des Ostblocks fiel die Systemkonkurrenz Anfang der 1990er-Jahre weg und der Neoliberalismus sorgte für eine Beschleunigung der Globalisierung. Zwar bildeten sich bereits ab den 1960er-Jahren zunehmend globale Lieferketten heraus. Und die erzwungene Öffnung Lateinamerikas während der 1980er-Jahre eröffnete großen Konzernen schon allerlei Investitionsmöglichkeiten. Die entscheidende Wende beim globalen Handel erfolgte aber erst während der 1990er-Jahre mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO), die explizit mit dem Ziel des Abbaus von Zöllen und anderen Handelsschranken gegründet wurde. Ihre beiden Grundsätze der Meistbegünstigung und Nichtdiskriminierung ausländischer Produkte machte einen Großteil der weiter oben beschriebenen Handelshemmnisse illegal.
Die WTO setzt Maximalzölle fest und sieht nur in wenigen Fällen Ausnahmen vor. Erlaubt ist der Einsatz protektionistischer Instrumente vor allem dann, wenn es gilt, Schaden von der eigenen Wirtschaft abzuwenden, z.B. Überkapazitäten von Drittstaaten, die den heimischen Markt überfluten, auszugleichen. Dafür gibt es sogenannte Schutzschirme. Zusätzlich dürfen „Wettbewerbsverzerrungen“ am Weltmarkt durch Antidumpingmaßnahmen oder Antisubventionsmaßnahmen ausgeglichen werden. Zölle als industriepolitisches Instrument, also Erziehungszölle, sind nicht mehr vorgesehen. Die von der UN als „Least Developed Countries“ (am wenigsten entwickelt) eingestuften Länder erhalten aber üblicherweise zollfreien Zugang auf die Märkte des Globalen Nordens, z.B. „einseitige Präferenzgewährung durch die Europäische Union“. Gerade für Länder mit mittlerem Einkommen gibt es diese Vergünstigungen nicht, der Zolleinsatz bleibt ihnen aber ebenso verwehrt. Auch „Local Content“-Bestimmungen in öffentliche Ausschreibungen zu geben, ist vom WTO-Recht nicht gedeckt.
Insgesamt ist durch die neoliberale Wende, die Deregulierung (heute „Bürokratieabbau“) ,Privatisierungen und Liberalisierung (z.B. des Kapitalverkehrs) vorantrieb, eine neue Situation entstanden. Einerseits bildete sich durch Auslagerungen und Betriebsverlagerungen bereits ab Ende der 1960er-Jahre eine sogenannte global aufgesplitterte Produktion heraus, die sich durch lange, in vielen Bereichen global verlaufenden Lieferketten auszeichnet. Andererseits wurde dies durch den Abbau von Handelsschranken und anderen Regulierungen zusätzlich begünstigt. Damit wurden neben Unternehmen auch die Nationalstaaten zueinander in Wettbewerb gesetzt. Ein „Wettlauf nach unten“ bei Arbeits-, Umwelt- und Steuerstandards setzte ein, um Investitionen und Finanzkapitel anzuziehen.
Der WTO-Rahmen schuf als Puzzleteil gute Bedingungen für einen Welthandel im neoliberalen Geiste. Das Handeln der WTO wurde allerdings nicht von allen Seiten geschätzt. Ende der 1990er-Jahre formierte sich eine globalisierungskritische Bewegung in der Zivilgesellschaft, die sich gegen Liberalisierung, Privatisierung und Zollabbau richtete und bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff. sehr aktiv war. Sie organisierte mehrere große Proteste rund um WTO-Gipfel in unterschiedlichen Ländern. Am bekanntesten wurde der „Battle of Seattle“ (1999), der der Bewegung als ständiger Referenzpunkt diente.
Mit dem Übergang der Europäischen Gemeinschaft zur EU wurde im Jahr 1993 auch der gemeinsame Binnenmarkt geschaffen. Zum internen Zollabbau und dem gemeinsamen Außenzoll wurde nun auch noch die Gestaltung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik unabdingbar. Unter neoliberalen Vorzeichen schränkte diese über die EU-Fiskalregeln und das Wettbewerbsrecht den Spielraum für nationale Industriepolitik stark ein, da bestimmte Defizitgrenzen eingehalten werden mussten und nationale Beihilfen ab einer gewissen Höhe grundsätzlich verboten wurden (auch wenn es davon geringfügige Ausnahmen gab).
Die Handelspolitik war seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 eine (EU-)Kompetenz. Ihr Fokus lag seit den 1990er-Jahren auf drei Säulen. Erstens wurde die WTO betreut (multilaterale Säule). Zweitens wurden mit anderen Staaten oder Staatengruppen Freihandelsabkommen ausgehandelt (bilaterale Säule). Drittens wurden sogenannte „trade defence instruments“ – Handelsschutzinstrumente – aufgebaut. Dabei handelte es sich um die drei WTO-konformen Maßnahmen, die auch die EU im Anlassfall zum Einsatz brachte.
Die zunehmende Fragmentierung der Produktion durch Auslagerungen („Outsourcing“) und Betriebsverlagerungen („Offshoring“) diente vor allem der Profitmaximierung großer Konzerne. Neben China konnte vor allem Südkorea diese Investitionen nutzen, um selbst Knowhow aufzubauen und eigene Industriezweige hochzuziehen, die heute am Weltmarkt konkurrenzfähig sind. Dies hat seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff., als der Welthandel stark einbrach, den dominanten Freihandelsdiskurs in Politik und Medien zunehmend gestört.
Erstens scheiterte im Sommer 2008 die Doha-Runde in der WTO, weil sich Länder des Globalen Nordens und des Globalen Südens hinsichtlich der sogenannten Singapur-Themen nicht einig wurden. Zusätzlich ist der Appellate Body, der Berufungsverfahren innerhalb der WTO gegen Panel-Entscheidungen abwickelt, seit 2019 nicht mehr handlungsfähig, weil die USA die Neubesetzung von Stellen verhindert. Zweitens führte diese Blockade der WTO dazu, dass sowohl USA als auch EU ihre Bemühungen bilaterale Freihandelsabkommen zu schließen, verstärkten. Drittens begannen USA und die EU zunehmend ihren freihändlerischen Zugang der „unilateralen Öffnung“ zu hinterfragen, bei dem sie zollfreien Zugang zum eigenen Markt gewährten, ohne dass es das Gegenüber auch tun musste. Besonders bezogen auf China wurde dies zunehmend als Problem begriffen. Der Einsatz WTO-konformer Handelsschutzinstrumente steigerte sich. Die USA und die EU führten bspw. im Jahr 2012 vorläufige Antidumpingzölle gegen chinesische Solarpaneelproduzenten ein, was dort 200 Hersteller in den Konkurs trieb. In der EU wurden diese aber bereits im Juli 2013 wieder abgeschafft. Unter anderem Deutschland setzte sich dafür ein, da es chinesische Vergeltungszölle fürchtete.
Die Austeritätsmaßnahmen, die die Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise durchsetzte, hatten die Kaufkraft in Südeuropa stark geschwächt. Deutschland kompensierte seine Ausfälle während der Eurozonenkrise, indem es zunehmend China als Absatzmarkt für seine Güter entdeckte, also seine Produktionsüberkapazitäten dorthin umleitete. Zugleich verdrängten billigere chinesische Konsumgüterimporte zunehmend südeuropäische, weshalb deutsche Unternehmen auch die Einkommen ihrer Beschäftigten niedrig halten konnten. So schafften es Deutschland und andere mitteleuropäische Länder ihre Industrie zu halten und schneller aus der Krise zu kommen. Es entstand aber eine strukturelle Abhängigkeit von China.
In Trumps erster Amtszeit trat die Europäische Kommission deshalb als „Hüterin des Freihandels“ auf, weil die Verhängung von Handelsschutzinstrumenten durch die EU immer die Gefahr barg, dass China sich revanchieren könnte. Dennoch liefen aber Bemühungen große Freihandelsabkommen abzuschließen ins Leere. Gegen TTIP, CETA und TiSA kam es zu großen zivilgesellschaftlichen Protesten. TTIP und TiSA kamen gar nicht zustande, während von CETA nach wie vor nur der Handelsteil provisorisch in Kraft ist, weil bisher nicht alle beteiligten Staaten das Abkommen in ihren nationalen Parlamenten ratifiziert haben. Zugleich ist Chinas Aufstieg so weit fortgeschritten, dass China die EU und die USA in vielen Technologiefeldern bereits eingeholt oder sogar überholt hat. Das erhöht die Vorbehalte gegenüber dem „Reich der Mitte“, dessen Exportorientierung – im Gegensatz zu jener Europas – mithilfe des Begriffs „Überkapazitäten“ negativ geframed wurde.
Präsident Trump startete seine zweite Amtszeit mit einem Feuerwerk an Zollankündigungen. Über den wahren Zweck hinter den Zöllen rätseln Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und die interessierte Öffentlichkeit rund um die Welt. Es handelt sich jedenfalls nicht um klassische entwicklungsökonomische Zölle, da sie flächendeckend gelten und nicht die Ansiedlung oder den Aufbau bestimmter Industriezweige fördern. Zugleich sind für die EU die Motive hinter den US-Zöllen weniger wichtig als die Erkenntnis, dass die aktuelle Abhängigkeit von China und den USA Europa verletzlich macht und dass deshalb gegengesteuert werden muss.
Während der politische Diskurs der letzten Jahre stark die Abhängigkeit Europas kritisiert hat, unterscheiden sich die Handlungsvorschläge unterschiedlicher Akteur:innen stark. Einige Branchen, die durch chinesische Konkurrenz unter Druck gekommen sind, z.B. die europäische Solar- oder Windindustrie, machen sich für protektionistische Maßnahmen stark, um chinesische Hersteller vom europäischen Markt fernzuhalten. Andere europäische Branchen, die viel nach China exportieren und auch dort produzieren, z.B. die deutsche Autoindustrie, sind hier liberaler und wünschen keine Zölle oder andere protektionistische Maßnahmen, da sie Vergeltungsmaßnahmen fürchten. Außerdem benötigen sie die Importe von E-Autos aus ihren eigenen Produktionsstätten in China, um die CO2-Flottenziele der EU zu erreichen. Eine Zwischenlösung wären Local Content-Auflagen, die europäische Wertschöpfung fördern würden. Sie könnten chinesische Produzent:innen auch zur Eröffnung von Niederlassungen in Europa inklusive Wissenstransfer bewegen. Eine andere Möglichkeit wäre, chinesische Unternehmen zur Gründung von Joint Ventures mit europäischen Unternehmen zu verpflichten, wenn sie am EU-Binnenmarkt verkaufen möchten. Denn aktuell ist eine rasche grüne Wende in Europa gänzlich ohne chinesische Produkte nicht denkbar, was für eine kooperative Strategie spricht. Zugleich gilt es aber zu verhindern, dass eine neue, zu starke einseitige Abhängigkeit entsteht.
Nun ist aber auch ein Zeitpunkt erreicht, um sich wieder einmal die viel tiefergehenden Kritikpunkte an der neoliberalen Globalisierung – inkl. WTO-Regeln und dem grundsätzlichen Ziel, Handelsschranken abzubauen – ins Gedächtnis zu rufen. Die Verbote von Local Content-Klauseln und die starke Einschränkung von Subventionen für staatlich angeleitete Entwicklung sind politisch gemacht und gehen auf neoklassische Annahmen des „natürlichen Gleichgewichts“ der Marktkräfte und des Idealbildes der „vollständigen Konkurrenz“ zurück. Der Staat soll möglichst wenig in die Wirtschaft eingreifen und jene Drittstaaten bestrafen, die es dennoch tun. Dies ist umso spannender, weil genau jene Staaten, die in der Geschichte eingegriffen haben, heute als Beispiele für erfolgreiche nachholende Entwicklung gelten, zum Beispiel China und Südkorea, aber auch Japan, Deutschland oder die USA.
Kritische Entwicklungstheorien aus dem Globalen Süden beschäftigen sich bereits seit Ende der 1940er-Jahre mit Fragen der wirtschaftlichen Abhängigkeit und wie diese überwunden werden kann. Da der weiter oben erwähne lateinamerikanische Strukturalismus zu großen Handelsbilanzdefiziten geführt hatte, entstand die Dependenztheorie. Sie argumentierte in unterschiedlichen Strängen ab den 1970er-Jahren, dass Industrialisierung alleine nicht Abhängigkeiten beenden könnte, sondern dass diese tief in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen eines Landes verankert wäre und sich in den ungleichen Außenbeziehungen widerspiegelte. Eine Gruppe der Dependenztheoretiker, u.a. der Deutsche Dieter Senghaas, der Ägypter Samir Amin und der Norweger Johann Galtung, setzt sich deshalb für das Ziel der „Self-Reliance“ ein, was auf Deutsch mit „autozentrierte“ (auf sich selbst fokussierte) Entwicklung übersetzt wird. Auch die großteils afrikanischen und asiatischen Politiker:innen der Blockfreien Bewegung setzten während der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre diesen Begriff als Vision ein, waren aber weniger stark antikapitalistisch geprägt. Sie wollten durch eine Neue Weltwirtschaftsordnung ein „größeres Stück des Kuchens“ für die Länder des Globalen Südens sichern.
Self-Reliance hatte drei grundlegende Säulen (siehe auch Abbildung 2). Erstens sollte auf die eigenen (lokalen) Ressourcen zurückzugegriffen werden, wo dies möglich ist. Zweitens sollten horizontale, gleichberechtigte Austauschbeziehungen mit anderen benachteiligen/abhängigen Gemeinden und Ländern aufgebaut werden (um kollektive Self-Reliance zu erreichen). Drittens wurde die Herausbildung einer neuen Weltwirtschaftsordnung angestrebt, die die Ausbeutung der Länder des Globalen Südens beenden sollte. Es gab offen sozialistisch, aber auch nicht sozialistisch, reformistisch geprägte Spielarten dieser Vision. Bereits Senghaas und Galtung argumentierten, dass „Self-Reliance“ auch im Globalen Norden möglich und sinnvoll wäre und betonten, dass es sich dabei nicht um Autarkie handelte, sondern um eine Orientierung der Wirtschaft (und damit auch des Verhältnisses von Eigenproduktion zu Handel) auf die Bedürfnisbefriedigung. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff. kann „Community Wealth Building“ – eine Entwicklungsstrategie, die in den USA und Großbritannien praktiziert wird – als Beispiel für Self-Reliance im Globalen Norden herangezogen werden.
„Self-Reliance“ betont den Gebrauchswert eines Gutes gegenüber dem Tauschwert. Wirtschaftstätigkeit solle sich mehr an der Bedürfnisbefriedigung orientieren als an der Gewinnmaximierung. Eine einseitige Spezialisierung, um besonders wettbewerbsfähige Exporte zu haben, macht aus dieser Perspektive keinen Sinn. Ganz im Gegenteil: ökonomische Subsidiarität, also möglichst kleinräumige, regionale Kreisläufe und eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur werden als Ziele definiert (siehe Abbildung 2). Nur was jeweils lokal, regional oder national nicht hergestellt werden kann, wird auf höheren Ebenen durch Handel erworben. Alleine dadurch kommt es zu einer selektiven Entflechtung der Weltwirtschaft. Auf makroregionaler Ebene, z.B. in der EU, soll nach diesem Denkansatz eine sogenannte kollektive „Self-Reliance“ angestrebt werden. Dieses Konzept ist allerdings grundlegend anders als die strategische Autonomie der EU, weil nicht die Absicherung der starken Exportposition der EU am Weltmarkt und nicht die Aufrechterhaltung der dysfunktionalen WTO-Regeln das Ziel ist, sondern eine neue Entwicklungsstrategie mit Binnenmarktorientierung, die lokale Wertschöpfung stärkt, Arbeitsplätze sichert und gleichberechtigte Beziehungen mit Drittstaaten anstrebt.
Aktuell wird Freihandel vor allem wegen Sicherheits- und Nachhaltigkeitsbedenken immer kritischer beäugt. Es gibt aber auch wirtschaftliche und soziale Gründe ihn skeptisch zu sehen. Deshalb befürwortete die Arbeiter:innenbewegung Zölle in langen Phasen. Nur weil Präsident Trump seit seinem zweiten Amtsantritt mit Zöllen um sich wirft, dürfen nicht grundlegendere theoretische Überlegungen und praktische Anwendungsbeispiele von Zöllen in Vergessenheit geraten. Insbesondere progressive Kräfte sollten nicht plötzlich gegen Zölle sein, weil Trump sie einsetzt. Wie an anderer Stelle ausführlich argumentiert, ist der Einsatz von protektionistischen Maßnahmen nicht per se zu verurteilen, sondern es kommt auf ihren genauen Zweck an. Denn sowohl der Aufbau eigener Industrien wie auch die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe – beides Grundlage für Versorgungssicherheit, hohe Arbeits- und Umweltstandards sowie den sozial-ökologischen Umbau unserer Volkswirtschaften – werden ohne Handelsschranken nicht umsetzbar sein.
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